Das Temporäre Klangmuseum

Die Abende, die die Künstlerin Barbara Holzherr und der Musiker Kalle Laar veranstalten, sind Feste; sie haben sich zur eigenen Kultur des Feierns entwickelt und sind - in München im Kontext eines Museums veranstaltet - zugleich transitorische Ausstellungen. Gegenstand ist die Musik; zum einen lassen sie Melodien aus aller Welt hörbar werden, die hier nicht bekannt sind, oder aufgespürte Raritäten, die nach dem Aufkommen der CD und dem Verschwinden der Schallplatte vom Markt nicht mehr ohne weiteres erhältlich sind.

Und weil sich Musik nicht ins Museum stellen läßt, haben die beiden Veranstalter ihr Projekt "Temporäres Klangmuseum" genannt: ein nicht fest installiertes "Museum", flüchtig und momenthaft wie eine Erinnerung - Ereignisse für einen Abend lang.

Angelegt sind die "Nächte der verlorenen Musik" weder als nostalgisches Schwelgen noch als Entertainment. Es geht um eine Suche, die, in einem übergeordneten Sinn, immer die Frage nach der Funktion der Musik als Sprache und auch der Frage nach dem gemeinsamen akustischen Gedächtnis der Rezipienten folgt: jeweils ausgehend von einem bestimmten Thema - die Spannbreite reicht bisher von "Exotica-Nacht", "Insel-Nacht", "Sport und Musik", "Electronic Lounge" bis hin zu "Space is the Place" - fügen sich Panoramen "verlorener" musikalischer Gedanken zusammen.

Kalle Laars Plattensammlung ist dabei Material, Fundus, und Ideenspeicher der unterschiedlichen "Ausstellungen", sein Plattenspieler das künstlerische Werkzeug der Vermittlung. Der Verlauf des Abends folgt dem jeweiligen Thema und ist zugleich unmittelbare Improvisation. Sie macht den Zugriff auf die Musikgeschichte als Vorgang eines subjektiven Erinnerns spürbar: Kalle Laar erweckt Klänge zum Leben, setzt sie in bits und pieces zusammen. läßt sie miteinander kommunizieren und reagiert dabei auf den Raum und die Leute darin. Der Klang wird zur Idee, soll nicht untermalen, berieseln oder den Besuchern kollektive (Tanz-)Bewegungen aufzwingen, sondern eine Polyphonie unterschiedlicher Gefühle, Assoziationen und Gedankenbilder eröffnen, über deren Gebrauch der einzelne entscheiden kann.

Die "Nächte der verlorenen Musik" sind deshalb weniger vorgedachte Komposition als vielmehr überraschende Hör-Reisen: Bewegungen zwischen den Zeiten, Genres, Klängen, oft fremd und bizarr, auf jeden Fall immer irgendwie neben dem Gewohnten. In manchmal wilden Mischungen hört man, neben Kuriositäten aus heimischen Gefilden - wie Reportageplatten, Werbeplatten, Geräuschplatten, Testplatten, Politikerplatten, Tierstimmen, Instruktionsplatten, Hypnoseplatten und was sonst noch an ungeahnten Schätzen auf Flohmärkten, Trödelläden oder in den Regalen ihrer Liebhaber verstaubt - vor allem Klänge "anderer Kulturen" und Traditionen weit jenseits des eurozentrischen Plattenrands.

Auf diese Weise findet der DJ, vergleichbar den Schriftstellern oder bildenden Künstlern, auf seinem Weg durch die Klanglandschaften zu neuen, nicht-linearen Weisen des Erzählens. Visuell wird das Geflirr der Klänge oft durch Projektionen von Plattencovern und durch das Einspielen von Filmsegmenten ergänzt, oder - in Abenden wie "Ambient Garden" - als Installation und räumliche Textur begehbar gemacht. In einem Abend mit der Münchener Lyrikerin Augusta Förster, die ihre Texte als disponibles Material im Internet präsentiert, wurde diese Erzählweise in ihren Verästelungen, Links und Wahlmöglichkeiten erstmals auf der Ebene von Wort und Sprache deutlich.

Die "Nächte der verlorenen Musik" sind Ereignis, Reflexion, Begegnung und mehr - jedenfalls nicht "just another party in town". Ob man sie als Fete oder Museumsbesuch erlebt, sind nur zwei der möglichen Optionen.

Birgit Wiens